Buchvernissage im Sozialarchiv

Mittwoch, 12.03.2025, 19.00 Uhr

Buchpräsentation und Podiumsgespräch: Alternativ leben: Natürlich, gesund, autoritär?

Schweizerisches Sozialarchiv, Stadelhoferstrasse 12, 8001 Zürich

Medienraum

 

In einer durch Digitalisierung, Klimawandel und Pandemien verunsicherten Welt versuchen immer mehr Menschen, wieder natürlicher, lokaler und gesünder zu leben. Dabei greifen sie oft auf Ideen und Praktiken der Lebensreform um 1900 zurück. Stefan Rindlisbacher, Eva Locher und Damir Skenderovic werfen in ihrem Sammelband einen neuen Blick auf die Geschichte dieser Alternativbewegung avant la lettre: Im Fokus stehen transnationale Netzwerke, koloniale Verstrickungen und Missbrauchsvorwürfe.

Im anschliessenden Podiumsgespräch kommen auch die Nachwirkungen der Lebensreform zur Sprache. Insbesondere wird diskutiert, inwieweit alternative Ernährungsweisen, biologischer Landbau, Naturheilkunde oder Reformpädagogik bis heute auch autoritäre und ausgrenzende Züge aufweisen können. Aktuell zeigen sich diese beispielsweise in Teilen der Post-Corona-Bewegung, in völkisch-esoterischen Siedlungsprojekten oder in rechtsalternativen Schulgründungen.

 

Buchpräsentation mit Eva Locher (Historikerin, Universität Bern) und Podiumsgespräch mit Stefan Rindlisbacher (Historiker, Universität Fribourg), Julia Sulzmann (Psychologin, Relinfo), Sarah Schmalz (Journalistin, WOZ). Moderation: Damir Skenderovic (Historiker, Universität Fribourg)

Download
2025_12_03_Flyer_Sozialarchiv.pdf
Adobe Acrobat Dokument 253.4 KB

Lebensreform in Zürich

In der Stadt Zürich gibt es heute noch mehrere Orte, die direkt auf die Lebensreformbewegung verweisen oder an denen sogar noch immer lebensreformerische Praktiken lebendig gehalten werden. Der bekannteste von ihnen ist zweifellos das vegetarische Restaurant «Hiltl». 1898 an der Sihlstraße 26/28 als «Vegetarierheim» eröffnet, gehört es heute zu den langlebigsten vegetarischen Restaurants der Welt. 1903 wurde es vom bayrischen Schneider Ambrosius Hiltl (1877-1969) übernommen und daraufhin schrittweise modernisiert. Hiltl versuchte das «Vegetarierheim» vom «Sektierergerüchlein» zu befreien, das ihm anhaftete, weil dort bisweilen langhaarige «Propheten» in Sandalen auf ihrem Weg zum Monte Verità Halt machten. Schon in den 1920er Jahren soll es täglich von 400 bis 500 Gästen besucht worden sein, die sich am vegetarischen Buffet bedienten.

Zur gleichen Zeit eröffnete Max Bircher-Benner auf dem Zürichberg, an der Keltenstrasse 48, sein berühmtes Naturheilsanatorium «Lebendige Kraft». Nachdem er 1897 eine erste Privatklinik eingeweiht hatte, baute er die Anlage ab 1903 stark aus. Seine «Ordnungstherapie» beinhaltete einen strikt regulierten Tagesablauf mit Naturheilanwendungen wie Luftbädern, Wasserkuren und Gymnastikübungen sowie ein individualisiertes Ernährungsprogramm. Jedoch konnten sich nur gutsituierte Gäste, die nicht ganz billigen Kurpreise leisten. Darunter war der Schriftsteller Thomas Mann, der seine Erlebnisse mit dem strengen Naturheilarzt und den zum Teil recht sonderbaren Kurgästen einige Jahre später in seinem Roman «Zauberberg» verarbeitete. Die Klinik wurde nach Bircher-Benners Tod unter verschiedenen Namen und wechselnder Führung bis 1994 weiterbetrieben. Das gut erhaltene Hauptgebäude beherbergt heute das Seminarhotel einer grossen Schweizer Versicherung. Unweit der Privatklinik wurde 1939 – kurz nach Bircher-Benners Tod – ein «Volkssanatorium» mit deutlich tieferen Preisen eröffnet. Das Gebäude am Schreberweg 9 wird bis heute als Klinik genutzt. Auf dem damals noch unbebauten Zürichberg hat sich seither ein dicht besiedeltes Villenquartier ausgebreitet. An die lebensreformerische Vergangenheit erinnert der «Bircher-Benner-Platz».

Damit nicht nur die mehr oder weniger privilegierten Sanatoriumsgäste von den Naturheilanwendungen profitieren konnten, eröffnete der «Zürcher Naturheilverein» 1901 in Nachbarschaft der Bircher-Benner-Klinik – an der heutigen Tobelhofstrasse – ein öffentlich zugängliches «Licht- und Luftbad». Das Gelände umfasste mehrere Umkleidekabinen, Sonnenliegen sowie Spiel-, Turn- und Sportanlagen. Zudem wurde ein kleiner Schrebergarten an das «Licht- und Luftbad» angebunden. Dort sollten Familien aus der Stadt nicht nur eigenes Gemüse anbauen, sondern auch ihre Freizeit unter freiem Himmel verbringen. Weil die Besucherzahl stetig anwuchs, wurde es mehrmals erweitert und mit einem Schwimmbecken und einem vegetarischen Restaurant ergänzt. Im Jahr 1935 verzeichnete es mit über 50'000 Eintritten einen Besucherrekord. Ähnlich wie das Naturistengelände «die neue zeit» am Neuenburgersee ist auch das ehemalige «Licht- und Luftbad» bis heute für Besucher*innen zugänglich.