Rückblick auf die Tagung "Ein ungleiches Paar – Arbeit und Freizeit in Industriegesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts", Universität Wien (21.01.2016 - 23.01.2016).
Zur Lebensreform gehörten vor allem veränderte Alltagspraktiken im Bereich der Ernährung, Kleidung, Körperpflege und Gesundheitsbehandlung. Viele lebensreformerische Handlungsanweisungen zielten auf die individuelle Lebensweise. Das bedeutet aber nicht, dass gesamtgesellschaftliche Fragestellungen keine Rolle spielten. Gerade der Blick auf die Problematisierung von Arbeit und Freizeit macht deutlich, wie stark das lebensreformerische Milieu auf soziokulturelle Trends reagierte. Viele lebensreformerische Aktivitäten wurden überhaupt erst durch die allmähliche Zunahme der Freizeit im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Gleichzeitig wurde die frei werdende Zeit spätestens in den 1920er Jahren immer stärker als Bedrohung der lebensreformerischen Gesundheitsideale wahrgenommen. Die Tagung an der Universität Wien machte deutlich, dass sich die LebensreformerInnen damit in einem illustren Kreis bewegten. Ob für staatliche, wirtschaftliche oder pädagogische Akteure, die frei werdende Zeit sollte durch Regulierung und/oder Selbstdisziplinierung so schnell wie möglich unter Kontrolle gebracht werden. Aus lebensreformerischer Perspektive sollte die Freizeit nicht aus frei verfügbarer Dispositionszeit bestehen, sondern die Gestalt einer regulierten, gesundheitsfördernden Obligationszeit annehmen. Letztlich ging es um die Steigerung der Arbeitsleistung während der Freizeit. Kaum hatten die Menschen sich mehr Freizeit erstritten, lösten sich die Grenzen zwischen diesen Räumen schon wieder auf. Damit ist auch die vielbeklagte Entgrenzung von Arbeit und Freizeit nicht nur ein Phänomen unserer digitalisierten Epoche, sondern kann auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken.
Nach der Tagung blieb noch ein wenig (Frei-)Zeit, um den Spuren der Wiener Moderne zu folgen. Wie die Ausstellung „Künstler und Propheten – Eine geheime Geschichte der Moderne 1872-1972“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt und der dazugehörige Ausstellungskatalog (Hrsg. von Pamela Kort und Max Hollein, Köln 2015) sehr schön gezeigt haben, gibt es vielfältige Verbindungen zwischen lebensreformerischen Künstlern wie Karl Wilhelm Diefenbach und Fidus mit Vertretern der Wiener Moderne wie Gustav Klimt und Egon Schiele. Unter anderem habe Diefenbach mit seinem Wandfries Per aspera ad astra Gustav Klimts Arbeit am weltberühmten Beethoven-Fries in der Wiener Secession beeinflusst. Wobei nicht nur auf die ähnliche Auswahl der Themen und Motive hingewiesen wird, sondern auch auf die Selbstinszenierung der Künstler als Propheten. Nicht zuletzt lässt sich auch anhand der heute noch erhaltenen Jugendstilbauten in Wien erkennen, wie stark sich die Reformbewegungen im frühen 20. Jahrhundert in ganz Europa gegenseitig beeinflussten.