Von Bern aus ist es nicht weit bis zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte der Schweizer Lebensreformbewegung. Ein gemütlicher Spaziergang führt an der Aare entlang und durch eine alte Kulturlandschaft bis nach Münchenbuchsee, wo ein grosser Gebäudekomplex mit wechselhafter Geschichte steht, der heute als Gymnasium und Internat genutzt wird. Rund um das Schloss Hofwil errichtete der Berner Patrizier Philipp Emanuel von Fellenberg (1771-1844) im frühen 19. Jahrhundert mehrere Schulen und einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb. Dort experimentierte er ähnlich wie Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) im benachbarten Burgdorf mit neuartigen Erziehungsmethoden. Sowohl die besitzlose Landbevölkerung wie auch die Kinder aus den höheren Ständen sollten in dieser ländlichen, von den negativen Einflüssen der Stadt abgeschirmten Einrichtung, auf das Leben in einer sich rasant verändernden Gesellschaft vorbereitet werden. An der Schwelle zur Moderne, mit Blick auf die aufkommende Demokratisierung und Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche, waren autonome Subjekte gefragt, die nicht nur Befehle befolgen, sondern selbstständig denken und handeln. Neben der intellektuellen Entwicklung spielte auch die körperliche Erziehung eine wichtige Rolle. Davon zeugt beispielsweise das erste, 1822 künstlich angelegte Freibad der Schweiz, das heute zwar nicht mehr mit Wasser gefüllt ist, jedoch sehr schön renoviert wurde.
Obwohl sich diese Reformschule zu einem international besuchten Anziehungspunkt entwickelte, wurde sie nach Fellenbergs Tod aufgelöst. Neues Leben zog erst wieder 1884 ein, als das 1833 gegründete staatliche Lehrerseminar des Kanton Berns nach Hofwil übersiedelte. Damit begann eine zweite Welle der Erziehungsreform, die um 1900 unter der Bezeichnung "Reformpädagogik" an Aufmerksamkeit gewann. Zu den Schweizer Protagonisten dieser Bewegung gehörte Ernst Schneider (1878-1957), der 1905 zum Direktor des Lehrerseminars ernannt wurde. Der damals erst 27-jährige Lehrer, der unter anderem beim bekannten Reformpädagogen Wilhelm Rein (1847-1929) in Jena studiert hatte, begann sogleich die Lehrerausbildung mit neusten Methoden umzugestalten. Das führte zu anhaltenden Konflikten mit der liberal-konservativen Lehrerschaft des Kantons, die sich nicht nur gegen die Abschaffung der Prügelstrafe wehrte, sondern in Schneiders Reformvorhaben auch sozialistische Umtriebe zu erkennen glaubte. Nach mehreren, öffentlich ausgetragenen Kontroversen musste der streitbare Reformpädagoge 1915 das Handtuch werfen.
Bis dahin hatte sich das Berner Lehrerseminar aber bereits zu einem Biotop verschiedenster Reformbestrebungen entwickelt. So förderte Schneider unter anderem die Psychoanalyse als Bestandteil der Kindererziehung und zusammen mit Otto von Greyerz (1863-1940) setzte er sich für die Landerziehungsheimbewegung ein. Zugleich war der Leiter des Unterseminarkonvikts Jakob Stump (1864-1926) ein glühender Verfechter der Abstinenz- und Wandervogelbewegung und der einflussreiche Seminarlehrer Hermann Röthlisberger (1883-1922) experimentierte mit Ernährungsreformen und ganzheitlicher Körperertüchtigung. Röthlisberger gab sein Interesse für die vegetarisch-neureligiöse Mazdaznan-Bewegung unter anderem an den Künstler Johannes Itten (1888-1967) weiter, der zwischen 1904 und 1908 das Berner Lehrerseminar absolvierte und ab 1919 zu den bedeutendsten Lehrern am Bauhaus in Weimar zählte. In der „Schneider“-Ära liess sich auch der spätere Lebensreformer und Pionier der Schweizer FKK-Bewegung Werner Zimmermann (1893-1982) zum Lehrer ausbilden. Nicht zuletzt nahm die Schweizer Freiwirtschaftsbewegung ihren Anfang in den Kreisen des Lehrerseminars. Nicht nur gehörte Schneider zu den Gründungsmitgliedern des Schweizer Freiland-Freigeld-Bundes, auch der langjährige Sekretär Fritz Schwarz (1887-1958) hatte seine Ausbildung in Hofwil absolviert.
Im Berner Lehrerseminar kamen zwischen 1905 und 1915 zahlreiche Reformbewegung zusammen, die zuvor weitgehend getrennt voneinander agierten. Reformpädagogik, Psychoanalyse, Abstinenzbewegung, Ernährungsreform, Körperkultur, Wandervogel, Freiwirtschaft und viele weitere Reformansätze wurden erstmals zu einem umfassenden Lebensreformprogramm verknüpft. Während sich an anderen lebensreformerischen Erinnerungsorten wie dem Monte Verità eher zufällig verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Reformideen trafen und mit ihrem extrovertierten Auftreten für ein grosses Medienecho sorgten, wurde am Berner Lehrerseminar zur gleichen Zeit systematisch an neuen Menschen- und Gesellschaftsentwürfen gearbeitet, Netzwerke geknüpft, alternative Medien herausgegeben und Bewegungsstrukturen aufgebaut. Nicht am Lago Maggiore, sondern am Berner Moossee wurde das Fundament für die Schweizer Lebensreformbewegung gelegt.