Bioläden, Öko-Wochenmärkte und vegane Kaffees – seit einigen Jahren boomen in einschlägigen Berliner Stadtteilen die Konsumangebote für die grün-nachhaltige Grossstadtjugend, ökosensible BesserverdienerInnen und die verblieben Alt-Hippies. In kaum einer anderen europäischen Stadt konnte sich der urbane Lifestyle mit naturromantischem Anstrich so gut etablieren. Schon in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts erfasste ein sehr ähnliches Phänomen die deutsche Hauptstadt. Aus dem Taumel der Nachkriegszeit entwickelte sich Berlin zu einem Biotop neuer Bewegungen und Subkulturen. Auch die Lebensreform traf auf ideale Bedingungen: Mit ihren euphorischen Ernährungs- und Körperutopien, den neuartigen Erziehungsmethoden, spirituellen Alternativangeboten und vielfältigen Konsumwelten traf sie in Berlin auf grosses Interesse. Reformhäuser und vegetarische Restaurants befriedigten die alltäglichen Bedürfnisse der gesundheitsbewussten Klientel. Frische Produkte erhielten sie unter anderem von der 1893 gegründeten Obstbausiedlung Eden in Oranienburg. Das lebensreformerische Musterprojekt war die ideale Projektionsfläche für die „Zurück-zur-Natur“-Fantasien der Grossstädter. Heute wie damals wagten jedoch die Wenigsten den Schritt in das andere Leben. Die viel kritisierte Grossstadt bot und bietet zu viele Vorteile. So beschränkte sich die Natursehnsucht schon damals auf leicht erreichbare Freizeit- und Ferienangebote. Beispielhaft waren die FKK-Vereine im brandenburgischen Umland. Vor allem der Motzener See entwickelte sich zu einem Hotspot der Nacktbadenden. Tausende BerlinerInnen pilgerten in jeder freien Stunde an seine Ufer. Bis heute gibt es in der brandenburgischen Wald- und Seelandschaft unzählige FKK-Gelände, -Bäder und -Campings.
Wer sich auf den Spuren der Lebensreform in Berlin begeben möchte, sollte auch einen Abstecher nach Woltersdorf machen. Dort baute der bekannte Jugendstilkünstler und Illustrator der Lebensreform Hugo Höppener alias Fidus 1907 das sogenannte Fidushaus. Ähnlich wie Oranienburg liegt Woltersdorf unweit der Stadtgrenzen Berlins. Fidus war Mitglied der „Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft“, die sich für naturnahe Siedlungsprojekte einsetzte. Wegen dem rasanten Wachstum vieler europäischer Städte um 1900 war man nicht nur in Deutschland auf der Suche nach neuen, urbanen Wohnformen. Bei Fidus und anderen deutschen Vordenkern der Gartenstadtidee vermischten sich die Siedlungskonzepte mit völkisch-rassistischen Menschenzüchtungsfantasien. Projekte wie die „Heimland“-Siedlung im Norden Brandenburgs blieben jedoch ohne langfristigen Erfolg. Pragmatischere Ansätze haben sich hingegen in der Stadtplanung etabliert. Das „Fidushaus“ sollte im Jahr 2000 zu einem „Museum der deutschen Lebensreform“ umgebaut werden. Nachdem die Vorbereitungen schon weitgehend abgeschlossen waren, scheiterte das Vorhaben an bürokratischen Hindernissen. Eine kleine Ausstellung über Fidus gibt es im Woltersdorfer Heimatmuseum zu sehen. Zudem lässt sich in der Schleusenstrasse ein von Fidus gestaltetes Weltkriegsdenkmal besichtigen.
Immer wieder ein Besuch wert ist auch das Bröhan Museum beim Schloss Charlottenburg. Die Sammlung mit Werken aus dem Jugendstil, Art Déco und Funktionalismus wird mit internationalen Wechselausstellungen ergänzt. Wie schon in anderen Blog-Beiträgen deutlich wurde, gab es zwischen der Lebensreform und diesen Kunstbewegungen nicht nur thematische Überschneidungen, sondern auch vielfältige personelle Kontakte und Freundschaften.