Reiz der Nische – Zeit.Räume der Nachhaltigkeit
18. bis 20. November 2021 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (online)
Donnerstag, 18. November, 16.30-18.30: Historische Perspektiven auf Nischen
- Marianne Heinze: „Die Zukunft machen?“ – Alternativkultur um 1970
- Bettina Barthel: Aus der Nische in die „Mitte der Gesellschaft“ – Zur diskursiven Mainstreamisierung gemeinschaftlichen Wohnens
- Johanna Rakebrand: Nachhaltigkeitsgemeinschaft als Sehnsuchtsort der Moderne? Überlegungen zur Erzeugung einer gegenwärtigen Nische
- Stefan Rindlisbacher: Vegetarisch, alkoholfrei, nackt: Das FKK-Gelände „Die neue Zeit“
Im Jahre 1937 wurde im Schweizerischen Thielle das FKK-Gelände «die neue zeit» eröffnet. Es lag idyllisch zwischen Neuenburgersee und Bielersee und diente dem 1928 gegründeten Schweizerischen Lichtbund als Hauptquartier. Der Verein setzte sich nicht nur für das Nacktbaden ein, sondern propagierte auch eine vegetarische Ernährungsweise, Alkohol- und Drogenabstinenz, sportliche Freizeitaktivitäten, Gymnastik, neureligiöse Glaubensvorstellungen, Naturheilkunde und Biolandbau. Im Sinne der sogenannten Lebensreform sollten die Mitglieder ihre Lebensweise umgestalten, um gesünder und leistungsfähiger zu werden und sich mit der Natur verbunden zu fühlen. Mit ihren bodenreformerischen und freiwirtschaftlichen Anliegen strebten sie aber auch einen gesamtgesellschaftlichen Wandel an. Im Unterschied zu anderen FKK-Vereinen in Europa, die nach 1945 ihre lebensreformerischen Ideale zugunsten einer grösseren Breitenwirkung aufgaben, gilt auf dem FKK-Gelände «die neue zeit» bis heute ein striktes Alkohol-, Tabak- und Fleischverbot.
Das FKK-Gelände «die neue zeit» erscheint in seiner räumlichen und zeitlichen Verfasstheit in mehrfacher Hinsicht als Nische. Einerseits bildete es einen Experimentierraum, in dem sozial abweichende Handlungsweisen, Körperpraktiken und Glaubensvorstellungen erprobt werden konnten. Während einige Praktiken wie das Nacktbaden in der Nische blieben, haben sich andere Aspekte der Lebensreform wie das Ideal eines fitten, braungebrannten Körpers oder alternative Ernährungsweisen wie der Vegetarismus oder Veganismus mittlerweile in der Mehrheitsgesellschaft etabliert. Andererseits war das FKK-Gelände «die neue zeit» ein hermetisch abgeschlossener Raum, der physisch durch einen hohen, blickdichten Zaun von der Aussenwelt abgetrennt wurde und deren Mitglieder sich durch strenge Aufnahmekriterien und Verhaltensregeln als verschworene Gemeinschaft von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzten.
Am Beispiel des FKK-Geländes «die neue zeit» lässt sich über einen langen Zeitraum von über 80 Jahren untersuchen, wie sich Menschen mit abweichenden Handlungsweisen in einer Nische organisierten, wie sie sich von einer sich verändernden Gesellschaft abgrenzten und über mehrere Generationen hinweg als Gemeinschaft definierten.