Am 29. Juni–1. Juli 2022 finden an der Universität Genf die 6. Schweizerischen Geschichtstage zum Thema "Natur" statt.
Panel "Naturvorstellungen in 'alternativen' Bewegungen und Milieus"
Donnerstag, 30. Juni, 13:45 bis 15:15 Uhr
Raum M 1140
Die Entstehung „moderner“ Industrie- und Konsumgesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert ging mit einem radikalen Wandel der alltäglichen Lebenswelten einher. Die voranschreitende Verwissenschaftlichung, Technisierung und Ökonomisierung veränderten die Ernährungsweise, die Wohnformen, die Freizeitaktivitäten, die Medizin, die Religiosität und viele weitere Lebensbereiche der Menschen. Gegen diese Entwicklungen positionierten sich immer wieder „alternative“, nicht-hegemoniale Bewegungen und Milieus, die eine „natürlichere“ Lebensweise propagierten. Sie suchten beispielsweise nach neuen Formen der Spiritualität, lehnten „künstlich“ hergestellte Medikamente und Impfungen ab, bevorzugten vegetarische Speisen oder gründeten Landkommunen mit Gleichgesinnten.
Die Natur spielte für diese Bewegungen und Milieus eine entscheidende Rolle als praktisches Handlungsfeld und als Bezugsfolie der eigenen Identitätskonstruktion. Dabei gab es aber keine einheitliche Vorstellung von Natur, die alle teilten. Sie konnte als unhinterfragbare Gesetzmässigkeit erscheinen, die alle Vorgänge und Handlungen schicksalhaft vorstrukturiert, oder die materielle Natur wurde als blosse Illusion aufgefasst, hinter der sich die wahre, geistige Natur der Dinge verbirgt. Sie konnte sowohl der Abgrenzung von einer als rücksichtslos und zerstörerisch interpretierten Industriegesellschaft dienen, als auch der Legitimierung sozialdarwinistischer und rassistischer Überlegenheitsfantasien.
Das vorliegende Panel möchte anhand ausgewählter Beispiele herausfinden, wie sich unterschiedliche Naturvorstellungen auf die Deutungsmuster und Handlungsweisen von Menschen in „alternativen“ Bewegungen und Milieus auswirkten. Wir gehen auch der Frage nach, wie diese Naturvorstellungen die politischen Einstellungen, Menschenbilder und Gesellschaftsideale der untersuchten Akteur*innen beeinflussten. Im Austausch zwischen den einzelnen Referierenden suchen wir nach Verbindungslinien zwischen den Akteur*innen und fragen nach Kontinuitäten der untersuchten Naturvorstellungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt versuchen wir herauszufinden, ob diese Naturvorstellungen weiterhin in „alternativen“ Bewegungen und Milieus zirkulieren und wo sie Bestandteil hegemonialer Diskurse geworden sind. Dazu werfen wir beispielsweise einen Blick auf aktuelle Debatten über den Klimawandel oder die Corona-Pandemie.
Referate:
- Judith Bodendörfer: Die ambivalente Naturvorstellung esoterischer Strömungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Zeitschrift Die weiße Fahne
- Robert Kramm: Agrarkommunen, Anarchismus und Naturkonzepte im imperialen Japan, c. 1900-1940
- Stefan Rindlisbacher: Lebensreform, Umweltschutz und die Neuen Rechten in den 1970er Jahren
- mit einem Kommentar von Eberhard Wolff