Rückblick auf den Workshop "Von der Lebensreform- zur Alternativbewegung" am 30. Oktober 2015 an der Universität Freiburg.
Seit Wolfgang Krabbe in den 1970er Jahren die lebensreformerischen Akteure zum ersten Mal in spezifische und periphere Teilbereiche einordnete, haben Generationen von Forschern und Forscherinnen nach einer sinnvollen Beschreibung der disparaten Ideen und Praktiken der Lebensreformbewegung gesucht. Am 30. Oktober 2015 trafen sich gleich mehrere dieser Generationen an der Universität Freiburg um über die Zukunft dieser Forschungsrichtung in der Schweiz zu sprechen. Da es im Unterschied zu Deutschland bis heute kaum Forschungsliteratur zur Lebensreform in der Schweiz gibt, stehen Forschende nicht nur vor der Frage, wie sie ihren Untersuchungsgegenstand im weitläufigen Spektrum der Lebensreformbewegung verorten können, sondern auch vor dem Problem, dass lebensreformerische Akteure in den Narrativen der bisherigen Geschichtsschreibung der Schweiz praktisch unsichtbar sind. Das gilt nicht nur für lebensreformerische Gruppierungen, Bewegungen und Milieus, sondern insgesamt für weite Teile des „alternativen“ oder „gegenkulturellen“ Spektrums der Schweizer Gesellschaft. Der Workshop hat deshalb nicht nur Entwicklungen und Kontinuitäten lebensreformerischer Akteure betrachtet, sondern auch nach personellen Verbindungen und inhaltlichen Überschneidungen mit verwandten Forschungsbereichen gefragt. Neben den beiden Doktorierenden des Forschungsprojekts „Die Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert“ nahmen deshalb auch drei Doktorierende mit Dissertationsprojekten zur Theosophie, Sexualreformbewegung und Alternativbewegung der 1970er Jahre teil.
Komplementiert wurde die Runde durch einige ausgewiesene Experten auf dem Gebiet der Lebensreform- und Alternativbewegungen. Mit Ulrich Linse (München) konnten wir einen der Pioniere dieser Forschungsrichtung einladen. Mit seinen Studien über die deutschen „Landkommunen“, „Barfüßigen Propheten“ und seiner „Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland“ hat Ulrich Linse die historische Erforschung „linksalternativer“ Bewegungen geprägt. Ebenso einflussreich sind Uwe Puschners (Berlin) Beiträge zur Geschichte völkischer und neureligiöser Akteure. Seine Habilitationsschrift über die „völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich“ gehört zu den Standardwerken dieser Forschungsrichtung. Kaum jemand hat sich in der Religions- und Geschichtswissenschaft so intensiv mit Theosophie, Anthroposophie und Spiritismus beschäftigt wie Helmut Zander (Freiburg). Mit seiner Teilnahme am Workshop konnte auch über die Verbindungen zwischen Theosophie, Lebensreform- und Alternativbewegungen im 20. Jahrhundert eine fachkundige Diskussion stattfinden. Als wissenschaftlicher Leiter des Forschungsprojekts „Die Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert“ kennt sich Damir Skenderovic (Freiburg) nicht nur mit lebensreformerischen Akteuren aus, mit seinen Arbeiten zu 1968 sowie den neuen Linken und Rechten spannt er auch den Bogen zu den Alternativbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Leider konnte Patrick Kury (Bern) nicht am Workshop teilnehmen. In seiner Arbeit über die „Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout“ beschreibt er lebensreformerische Bewältigungsstrategien in der „modernen Leistungsgesellschaft“. Damit gehört er zu den wenigen Historikern in der Schweiz, die sich bereits mit Lebensreform beschäftigt haben.
Die fünf Referate des Workshops wurden jeweils durch kurze Kommentare und ausführliche Diskussionen abgerundet. Den Anfang machte Judith Bodendörfer (Freiburg) mit ihrem Referat über die Interdependenz von Theosophie und Humanwissenschaft um 1900. Die 1875 gegründete Theosophische Gesellschaft versuchte die „westliche“ Naturwissenschaft mit „östlicher“ Spiritualität zu kombinieren. Die aufgeklärte, rationalistisch-materialistische Weltdeutung sollte durch esoterische Wissensbestände ergänzt werden. Nicht eine vormoderne, wissenschafts- und technikfeindliche Gesellschaft wurde damit herbeigesehnt, sondern eine andere Moderne, die eine „Versöhnung“ zwischen Wissenschaft und Religiosität, zwischen Mensch und Natur ermöglichen sollte. Nicht nur die TheosophInnen suchten in den buddhistischen und hinduistischen Wissensbeständen nach einer „ganzheitlichen“ Deutung des Menschen und seiner Umwelt. Auch für die Jugend- und Lebensreformbewegung ging nach den erschütternden Erfahrungen des Weltkrieges der Blick nach Osten. Die Mazdaznan-Bewegung ist nur eine von vielen Verbindungen zwischen Lebensreform und Theosophie. Aber auch die Begeisterung der Alternativ- und Hippiebewegung für hinduistische Körperpraktiken und indische Gurus in den 1960er- und 1970er Jahren erscheint in der longue durée-Perspektive als Fortführung tradierter Handlungsmuster. Geht man davon aus, dass die Auswahl, Übersetzung und Neukonfigurationen religiöser Schriften durch theosophische Akteure, die Rezeption asiatischer Religiosität im 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst haben, ist es plausibel, dass sich die Wege der TheosophInnen, LebensreformerInnen und Hippies gekreuzt haben.
Weiter ging es mit Judith Grosse (Zürich) und dem Thema Das ‚Exotische‘ in der Sexualreformbewegung – Differenz, Kritik und Begehren in deutschen Ehereformzeitschriften (1925-1933). Ähnlich wie die Theosophie versuchte auch die Sexualreformbewegung die westlichen Wissensbestände mit „exotischem“ Wissen zu erweitern. Die Auflösung religiöser Autoritäten und Gewissheiten durch Verwissenschaftlichung und Historismus erzeugte ein Klima der Unsicherheit. Je mehr Geheimnisse der menschliche Körper Preis gab, desto stärker wurden Sexualität, Fortpflanzung und Partnerschaft zu profanen Alltäglichkeiten. Kaum verwunderlich verlor die „Heiligkeit“ der Ehe im Zeitalter der Evolutionstheorie an Strahlkraft. Die Sexualreformbewegung arbeitete an dieser Entzauberung des Sexuellen tatkräftig mit. Wie bei der Theosophie begann damit aber auch die Suche nach neuen Gewissheiten: Bei aussereuropäischen Kulturen – unter anderem in Indien – wurde nach anderen, „natürlicheren“ Formen der Sexualität und Partnerschaft gesucht. Gerade für die lebensreformerische Freikörperkultur war diese Neukonfiguration der Sexualität von entscheidender Bedeutung. Nicht selten wurde die „Wissenschaftlichkeit“ der eigenen Überzeugungen mit Hinweis auf VertreterInnen der Sexualreformbewegung legitimiert. Gleichzeitig steigerte sich mit der vollständigen Enthüllung des menschlichen Körpers die Entzauberung des Sexuellen zur Entsexualisierung des Körperlichen. Auch hier versprach der Blick auf die „fremden Kulturen“ eine Lösung: Durch „exotische“ Sexualpraktiken wie Tantra oder Karezza konnte der entsexualisierte Körper auf einer spirituellen und damit unverfänglichen Ebene wieder erotisch aufgeladen werden. Eine Handlungsweise, die bis in die Gegenwart immer wieder neue Konjunkturen erlebt.
Dann folgten die beiden Referate zur „Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert“. Ich konzentrierte mich dabei auf den Zusammenhang zwischen Jugend- und Lebensreformbewegung. So gab ich meinem Referat den Titel «Zur Jugendbewegtheit gehört die Zielrichtung der Lebensreform. Die Konstruktion einer lebensreformerischen Weltanschauung in der ‚TAO‘-Zeitschrift (1924-1937)». Das Zitat stammt vom Schweizer Lebensreformer Werner Zimmermann. Wie kaum ein anderer hat Zimmermann die Lebensreform in der Schweiz der Zwischenkriegszeit geformt und nachhaltig geprägt. In seiner TAO-Zeitschrift versuchte er die Umgestaltung der jugendlichen Protestbewegung in eine lebensreformerische „Freiheitsbewegung“ anzustossen. Wie für Periodika aus dem lebensreformerischen Spektrum typisch, findet man in TAO eine überwältige Vielfalt an Themen, sowohl aus den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Sport, Wohn- und Arbeitsformen, Sexualität und Adoleszenz als auch zu Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie wirtschaftliche und politische Ordnungsvorstellungen. Aber gerade entlang der Frage, wie sich die Jugendbewegung in den 1920er Jahren weiterentwickeln sollte, verdichteten sich zentrale Diskurse, die für die Lebensreform in der Schweiz prägend wurden und auch Richtungskämpfe innerhalb der 1968er, der neuen Linken und des „alternativen“ Milieus der 1960er und 1970er Jahre vorwegnahmen. Wie stark die lebensreformerischen Ideen und Praktiken der Zwischenkriegszeit in der Schweiz auch nach 1945 rezipiert wurden, zeigte uns Eva Locher mit ihrem Beitrag «Auf die verschiedensten Arten will man die Weltverbessern» - Die Lebensreformer in der internationalen Freikörperkultur (1960er-1980er Jahre). Während viele deutsche FKK-Gruppierungen die lebensreformerischen Inhalte zugunsten einer freizeit- und sportorientierten Haltung aufgaben, blieben die ernährungs-, körper- und erziehungsreformistischen Konzepte und Praktiken in der Schweiz bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehen. Wodurch die Schweiz – wie schon oft zuvor – ein Anziehungspunkt für LebensreformerInnen aus aller Welt wurde. Jedoch war aus der ehemals jugendlichen Bewegung, ein lebensreformerisches Milieu mit AnhängerInnen aus verschiedensten Altersgruppen geworden.
Durch die Erschütterungen der 1968er-Bewegung politisiert, erlebte die Jugendbewegung in den 1970er Jahren einen neuen Aufschwung. Wieder ging es um eine andere Lebensweise und um neue Formen des Zusammenlebens, wieder spielte die Suche nach Spiritualität, nach einer anderen Form der Religiosität, eine wichtige Rolle, auch über Sexualität und Partnerschaft wurde gesprochen – so laut wie nie zuvor - und wieder zog es junge Leute aufs Land, in die Natur. Zwei jugendbewegte Gruppierungen aus Österreich und der Schweiz gründeten 1973 die Europäische Kooperative Longo Mai. Von dieser Geschichte erzählte uns Katharina Morawietz (Freiburg) zum Abschluss des Workshops in ihrem Referat Die Gründung von Longo maï – wie aus lokalem Protest ein transnationales Gemeinschaftsprojekt entstand. Wie es schon Zimmermann in den 1920er Jahren mit seiner lebensreformerischen „Freiheitsbewegung“ forderte, wollte Longo Mai nicht nur die individuelle Lebensweise jedes Einzelnen verändern, sondern strebte auch eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform an. Dazu schloss man sich aber nicht dem gewaltbereiten, „revolutionären Kampf“ marxistischer Gruppen an - auch an der etablierten Parteipolitik hatte man keine Interesse - vielmehr setzte man wie schon die LebensreformerInnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf eine praxisorientierte, lokale Umsetzung der angestrebten Ideale.
Der Workshop ermöglichte den Blick über den Tellerrand des eigenen Forschungsthemas. Gerade bei der eklektischen Lebensreform ist diese offene Perspektive unvermeidlich, verstärkt aber auch die Grundproblematik dieser Forschungsrichtung: Wegen der enormen Anschlussfähigkeit der Lebensreform mit anderen (Welt-)Anschauungen und ideologischen Versatzstücken versagen die gängigen Ordnungskategorien. Das gilt nicht nur für lebensreformerische Akteure, sondern auch für die Alternativbewegungen der 1970er Jahre. Wenn „linksalternative“ Jugendgruppen aufs Land ziehen, ein funktionierendes Unternehmen aufbauen, dabei massive Unterstützung – auch aus kirchlichen Kreisen und besonders aus bildungsbürgerlichen Schichten – erhalten, dann muss man sich fragen, ob die bisherigen Analysekategorien noch ausreichen. Die longue durée-Perspektive ermöglicht es, "alternative" und „gegenkulturelle“ Akteure aus ihrer Zeitgebundenheit herauszulösen und nach Kontinuitäten dieser Form der Gesellschaftskritik zu fragen. Gerade für die Geschichtsschreibung der Schweiz ist eine Aufarbeitung dieser bisher kaum beachteten Gruppierungen, Bewegungen und Milieus von grossem Interesse: Nicht nur der Monte Verità war ein globaler Anziehungspunkt für lebensreformerische Akteure, die Schweiz war über das gesamte 20. Jahrhundert ein Drehpunkt der Lebensreform- und Alternativbewegungen. Aber weil diese Akteure nie mit Gewalt oder lautem Gepolter aufgetreten sind, fehlen ihre Ausrufezeichen in der Geschichtsschreibung der Schweiz. Schaut man genauer hin, zeigt sich jedoch, dass diese Gruppierungen, Bewegungen und Milieus einen starken und nachhaltigen Einfluss auf die Schweizer Gesellschaft ausüben konnten. Deshalb werden wir im Forschungsprojekt „Die Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert“ die interdisziplinäre Zusammenarbeit weiter vorantreiben, die longue durée-Perspektive noch stärker betonen und mit Blick auf die transnationalen Aspekte der Thematik auch weiterhin den Kontakt mit Forschenden aus aller Welt suchen.